Studie: Wohlbefinden von Nagetieren in Laborhaltung

Zum Wohlbefinden von Farbmäusen (Mus musculus f. dom.) und Farbratten (Rattus norvegicus f. dom.) in der Labortierhaltung hat Balcombe (2010) eine kurze Studie vorgelegt. Der Autor geht davon aus, dass sich die derzeit verbreitete Tierhaltung unter Laborbedingungen negativ auf das Wohlbefinden von Mäusen und Ratten auswirkt. Die Befunde lassen sich in fünf Kernaussagen zusammenfassen:


(a) Ratten und Mäuse sind in hohem Maße empfindungs- und leidensfähig.

(b) Die Laborumgebung verursacht Leiden.

(c) Ratten und Mäuse haben im Freiland verhaltensspezifische Bedürfnisse.

(d) Ratten und Mäuse, die seit Generationen im Labor gezüchtet werden, haben diese Bedürfnisse auch.

(e) Den Bedürfnissen wird in der Labortierhaltung nicht entsprochen.

 

Schon eine zuvor vorgelegte Untersuchung legt nahe, dass jenseits der an den Tieren durchgeführten Versuche auch die Pflegemaßnahmen, wie das Bewegen oder Säubern der Käfige das Stresslevel von Mäusen und Ratten erhöht. Es kann also davon und ausgegangen werden, dass die Tiere hierbei Unbehagen und Angst erleben. (vgl. Balcombe et al. 2004)

Die in der Laborhaltung verwendeten Käfige für Nagetiere verhindert nach Balcombe (2010) grundlegende natürliche Verhaltensweisen wie Bewegung (Klettern, Wühlen), Erkundung, Nestbau, Verstecken, Nahrungssuche und die Wahl der Sozialpartner. Er verweist darauf, dass auch die Einzelhaltung der sozialen Mäuse und Ratten im Labor relativ üblich ist. Ebenso seien in reizarmer Käfighaltung verstärkt Verhaltensstereotypien zu beobachten.

Der Autor erklärt, dass Käfighaltung zu Versuchstierzwecken nicht beendet werden kann, spricht sich jedoch für eine Veränderung aus. Demnach sei eine Haltung ohne Einkäfigung die einzige, die den Bedürfnissen der Tiere entspricht.

Geistige Fähigkeiten und Verhalten im Freiland

Balcombe (2010) zählt mit Verweis auf vorangegangene Studien die geistigen Fähigkeiten von Labortieren auf. Mäuse und Ratten haben nicht nur einen ausgeprägten Geruchs- und Geschmackssinn, sondern sind auch zu anderen Sinneswahrnehmungen sowie zu Gefühlen und Empfindungen fähig. Sie empfinden Schmerz, reagieren darauf, leiden darunter und zeigen nachhaltige Folgeschäden. Vermeidungsverhalten bezieht sich nicht nur auf Schmerzen, sondern auch auf Hitze und Kälte.

 

Ratten zeigen ausgeprägte geistige Fähigkeiten. Sie wissen, was sie wissen (Metakognition), schneiden in Entscheidungstests mit Risikobewertung gut ab, können durch Beobachtung sowie durch Imitation lernen und haben ein Verständnis für Ursache und Wirkung. Sie haben eine innere, kognitive Landkarte (mental map), sind empathiefähig und zeigen Formen von gegenseitiger Rücksichtnahme sowie Vertrauen in andere. Ebenso sind Ratten in der Lage, Freude, Optimismus und Pessimismus zu empfinden. Mäuse können ebenso ihre soziale Umgebung erfassen, ihnen vertraute Artgenossen oder auch Pfleger erkennen und sind ansatzweise empathiefähig. Beide Arten kommunizieren über Körpersprache, Gerüche und Lautäußerungen. (vgl. ebd.)

 

Die Fähigkeiten der Tiere sind Anpassungen an das Leben im Freiland. Sowohl Wanderratte (Rattus norvegicus) als auch Hausmaus (Mus musculus) sind anpassungsfähig und opportunistisch bezüglich ihres Lebensraumes und den Lebensbedingungen. Ratten bauen unterirdische Gangsysteme mit weich ausgepolsterten Kesseln, in denen sie Schutz suchen, schlafen, fressen, Futter lagern und ihre Jungen aufziehen. Ihr typisches Revier ist 2500 - 5000 m² groß. Wilde Wanderratten leben in Kolonien, in denen miteinander verwandte Weibchen in Gruppen von bis zu sechs Tieren einen Bau bewohnen. Hierzu gehört üblicherweise ein erwachsenes Männchen. Mit steigender Populationsdichte kommt es dazu, dass es ein dominantes und mehrere subordinierte Männchen gibt oder einzelen Männchen abwandern.

Hausmäuse sind gleichermaßen anpassungsfähig in Bezug auf Lebensraum und Nahrung. In einer Nacht nehmen sie bis zu 200 Mal Futter zu sich. Die aufwändig ausgepolsterten Nester werden in Erdbauten oder sonstigen Hohlräumen angelegt. Typischerweise gibt es mehrere Eingänge zum Nest. Hausmäuse leben in Sozialverbänden. Ihre Reviere umfassen teilweise nur wenige Quadratmeter. Jungmännchen wandern üblicherweise ab. (vgl. ebd.)

Labortierhaltung

Üblicherweise werden Mäuse und Ratten in kleinen und niedrigen Laborkäfigen (shoe-box cage, Balcombe 2010) gehalten, die oftmals in einem Regal übereinander gestapelt in einem künstlich beleuchteten und klimatisierten Raum untergebracht sind. Wasser und homogenisiertes Pressfutter stehen immer zur Verfügung, der Käfigboden ist mit Holzspänen ausgestreut. Nur wenige Käfige sind mit Möglichkeiten zur Beschäftigung oder zum Verstecken ausgestattet. Die Fläche, die dem einzlenen Tier zur Verfügung steht umfasst wenige Quadratzentimeter. (vgl. ebd.; siehe auch ETS 123)

Unter diesen Bedingungen werden normale Sozialdynamiken verhindert. Insbesondere in der nach wie vor verbreiteten Einzelhaltung. Junge Mäuse werden üblicherweise am 21. Lebenstag von der Mutter getrennt. Im Freiland würden sie ihr Geburtsterritorium nicht vor dem 35. bis 42. Lebenstag verlassen. Eigenständiges Abwandern ist ebenso wenig möglich, wie das gegenseitige Ausweichen von dominanten und untergeordneten Tieren oder die langsame Annäherung von einander fremden Individuen.

Angesichts dieser Lebensumstände verweist Balcombe (2010) darauf, dass sowohl Ratten als auch Mäuse in reizarmen Käfigen zum Konsum von schmerz- und angstlösenden Substanzen neigen, um ihr Wohlbefinden zu verbessern. Die Beleuchtung in Labortierräumen kann die Augen der Tiere schädigen, ebenso erzeugen einige Maschinen und Apparaturen hochfrequente Töne, die sich negativ auf die Gesundheit der Nagetiere auswirken. Gerüche von Reinigungsmitteln, anderen Tieren und Menschen erzeugen ebenfalls Stress. Die einseitige Fütterung lässt den ausgeprägten Geschmacksinn verkümmern. Ebenso wird das psychomotorische Erleben des Nahrungserwerbs, welcher einen großen Teil der Aktivitätszeit ausmacht, durch die Fütterung mit einem Futterspender eingeschränkt. Die Tiere zeigen dennoch typische Verhaltensweisen der Nahrungssuche, welche jedoch ins Leere laufen. (vgl. ebd.)

 

Balcombe (2010) erklärt, dass Ratten in großen Laufställen (pens) in einem besseren körprlichen Zustand sind, sauberer erscheinen, sich neugieriger, freundlicher und weniger ängstlich verhalten. Auch die Aggression untereinander nimmt im Vergleich zur Haltung im Käfig ab und es sind keine Kämpfe zu beobachten. In einer Beobachtung über zwei Jahre zeigten die Tiere eine bessere körperliche Gesundheit und eine niedrigere Mortalität. Mit Einrichtung angereicherte Käfige (environmental enrichment) bieten nur geringe Möglichkeiten, natürliches Verhalten auszuleben. Meist beschränkt sich nach Balcombe (2010) das Enrichment auf einen Unterschlupf und Nistmaterial. Ebenso lassen sich weiterhin Stereotypien beobachten.

Ende der Käfighaltung?

Die Lebensqualität der Nagetiere in Laborhaltung ist nach Balcombe (2010) durch fehlende Freiheit ebenso wie durch Leiden, Stress und Trostlosigkeit (morbidity) eindeutig vermindert. Die Bedingungen in Laborhaltung stehen im Gegensatz zu jenen im Freiland. Die verfügbare Fläche pro Tier im Laborkäfig macht nur einen Bruchteil des natürlicherweise genutzten Territoriums aus und die Tiere haben keine Kontrolle über ihre Sozialkontakte oder Lebensbedingungen. Dabei zeigen vorangegangene Studien, dass beispielsweise wild gefangene Hirschmäuse (Peromyscus maniculatus) sehr motiviert sind, Kontrolle über ihre Umgebung auszuüben. Sie betätigen Schalter für Lichter, Töne oder motorgetriebene Räder, suchen Verstecke, Plattformen und Labyrinthe auf, sichern die Umgebung oder benagen Holz. (vgl. ebd.; siehe zur "Umweltkontrolle" auch Kirchner 2010, zitiert bei Kräh 2020)

 

Freilebende Tiere müssen selten Bedingungen aushalten, denen sie sich nicht entziehen können oder deren Auswirkungen sie nicht durch ihr eigenes Handeln lindern können. Ihren natürlichen Verhaltensweisen nachzugehen ist der eigentliche Selbstzweck (telos, Balcombe 2010) von Mäusen und Ratten. Der Autor erklärt, dass, wenn Tiere in kleinen Käfigen gehalten werden, ihnen ihre Autonomie und dieser Lebenssinn genommen wird. Psychisches Wohlbefinden entsteht durch erfolgreiche Bewältigung und Anpassung an die Probleme des Lebens und nicht durch deren vollständige Abwesenheit. Ein herausforderndes Umfeld mit Reizen, auf die das Individuum reagieren kann, ist somit förderlicher für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden als eine reizarme Umgebung, die natürliche Verhaltenweisen unterbindet und keine Kontrolle des Individuums zulässt. (vgl. ebd.)

 

Balcombe (2010) fasst zusammen, dass die Wissenschaft lange Zeit an den mentalen Fähigkeiten und subjektiven Empfindungen von Tieren gezweifelt hat. Die Forschung zeigt jedoch, dass auch Ratten und Mäuse in hohem Maße empfindungsfähige Individuen sind, die ein signifikantes Interesse an ihrem eigenen Wohlbefinden haben. Es gibt eine viele Hinweise darauf, dass Laborkäfighaltung ein ernstes Problem für dieses Wohlbefinden darstellt und dieses durch die bislang unternommenen Versuche von Environmental Enrichment nicht gelöst wird. Daher müsse man zum Schluss kommen, dass es nicht länger zu rechtfertigen ist, diese Tiere für ihr gesamtes Leben in kleine, reizarme Käfige zu sperren.

mehr

Balcombe, J. P., Barnard, N., & Sandusky, C. (2004): Laboratory routines cause animal
stress. Contemporary Topics in Laboratory Animal Science, 43. S. 42-51.

 

Balcombe, J. (2010): Laboratory Rodent Welfare: Thinking Outside the Cage. Journal of applied animal welfare science (JAAWS), 13. S. 77-88. 10.1080/10888700903372168. https://www.researchgate.net/publication/40694425_Laboratory_Rodent_Welfare_Thinking_Outside_the_Cage

 

ETS 123 (2006): Appendix A of the European Convention for the protection of vertebrate animals used for experimental and other scientific purposes (ETS No. 123). Guidelines for accomodation and care of animals (article 5 of the convention). https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=090000168007a445

 

Kirchner, J. (2010):  Präferenzen in Gruppen gehaltener Labormäuse für verschiedene Einstreustrukturen und -materialien. Inaugural-Dissertation. Tierärztliche Hochschule Hannover.

 

Kräh, S. (2020): Studie: Streupräferenzen bei Farbmäusen. https://ratfrett.jimdofree.com/2020/05/05/studie-streupr%C3%A4ferenzen-bei-farbm%C3%A4usen/